Ein Interview mit Tamara Felbinger
Woran kann es liegen, dass manche Frauen* nach einer Schwangerschaft und Geburt keine Lust auf Sex haben? Welche Probleme/Lustkiller können auftauchen?
Zu Beginn möchte ich zwei Begrifflichkeiten unterscheiden. Nämlich SEX und GESCHLECHTSVERKEHR. SEX kann so vieles sein. Kann kuscheln sein, kann streicheln sein, kann eine lange und wunderbar nahe Umarmung sein, kann Oralverkehr sein, kann ein inniger Kuss sein, den wir auch als Kribbeln in der Vulva wahrnehmen. Geschlechtsverkehr ist die Verbindung von Penis und Vagina.
Die Vulva sind die äußeren, sichtbaren Teile des weiblichen Körpers, die Vagina ist die Verbindung vom Vaginaleingang bis zum Muttermund.
Nach einer Geburt ist das Leben auf den Kopf gestellt. Das Leben mit einem Neugeborenen ist mit Nichts davor Erlebtem zu vergleichen. Ganz logisch ist in den ersten Wochen die Aufmerksam beider Elternteile auf das neue Familienmitglied gerichtet. Versorgung, Pflege, Alltag mit Baby, alles muss erst neu erlernt werden und sich einspielen. Das braucht natürlich Zeit und ist ganz individuell für jede Familie und auch abhängig von dem unplanbaren Faktor Baby. Denn jedes Baby ist einzigartig und man kann davor so viel planen, wie man möchte, das Baby kann jeden Plan mit drei nächtlichen Schreianfällen schneller über Bord werfen, als man glaubt.
Natürlich beeinflussen Schlafmangel, Stress, neue Herausforderungen, Erschöpfung und der Fokus auf das Kind auch unsere Libido. Teilweise sind es aber auch ganz alltägliche Gründe, warum wir weniger Sexualität leben, wie der große Faktor ZEIT. Denn unglaublicherweise rennt die Zeit mit einem Kind plötzlich doppelt so schnell wie davor. Plötzlich ist das gemeinsame Wochenende schon wieder vorbei und man fällt Sonntagabend erneut erschöpft ins Bett.
Auch das individuelle Erlebnis der Geburt gebührt genauer Betrachtung. Geburt ist es etwas Wundervolles, Traumhaftes und Magisches. In manchen Fällen jedoch auch schmerzhaft, traumatisch und mit Verletzungen verbunden. Dieses spezielle Erleben der Geburt beeinflusst natürlich auch die Zeit, die es braucht, um sich wieder lustvoll und erotisch fühlen zu können und Leidenschaft leben zu wollen.
Auch Hormone spielen eine Rolle. Vor allem in der Zeit nach der Geburt und während dem Stillen sind im Körper der Frau* andere Hormone aktiv. Ein niedrigerer Östrogen- und Testosteronspiegel und ein erhöhter Oxytocin- und Prolaktinspiegel führen häufig zu Trockenheit der Vulva und Vagina. Die Schleimhaut ist besonders empfindlich und muss behutsam berührt werden. Hier ist Sensitivität und behutsames Vorgehen gefragt. Natürlich kann auch eine Fachperson mit pflanzlichen und pflegenden Präparaten helfen. Vorsicht jedoch mit zu vielen Pflegeprodukten, diese können auch kontraproduktiv wirken und zu einer Reizung und Irritation der Scheidenflora führen, was wiederrum zu Pilzen und Infektionen fördert.
Wann ist denn die beste Zeit, um das erste Mal nach der Geburt miteinander zu schlafen?
Medizinisch wird oft geraten, nach einer Geburt 6 Wochen zu warten. Das ist jedoch, wenn es der Frau* gut geht und sie Lustempfinden hat, nicht unbedingt einzuhalten. Wann ist der beste Zeitpunkt? Dann wenn beide LUST haben! Dann wenn die ZEIT es zulässt und ENTSPANNUNG möglich ist! Dann wenn beide NEUGIERIG aufeinander sind und sich auf das Erlebnis einlassen können. Hier kommt es auch darauf an, wie das Paar/die Frau* davor ihre Sexualität gelebt haben/hat und wie ihr grundsätzlicher Zugang dazu ist. Umso weniger darüber kommuniziert wird, umso weniger Relevanz das Thema auch vor einer Geburt hatte, umso länger dauert es im Normalfall wieder zurückzufinden.
Was sollte man dabei beachten?
Das „erste Mal“ nach einer Geburt ist oft wirklich gleichzusetzen mit dem allerersten Mal. Die Aufregung, den Körper neu zu entdecken, die Berührungen neu zu fühlen, die Neugierde, wie es sein wird. All das braucht immer ein bisschen Mut und teilweise auch Überwindung. Deshalb mein Tipp: Stress raus! Wenn Geschlechtsverkehr nicht gleich klappt, dann andere Wege finden sich zweisam Lust und Freude zu schenken. Der Fantasie sind da natürlich keine Grenzen zu setzen.
Miteinander sprechen und kommunizieren ist das A und O und muss manchmal erst gelernt und geübt werden. Traut euch! Auch Hilfsmittel sind vollkommen in Ordnung, Gleitgel und Vibratoren. Alles, was Spaß macht und Druck herausnimmt. Gibt es etwas, was Paare unbedingt vermeiden sollten?
Das wichtigste ist NIEMALS ÜBER DEN SCHMERZ GEHEN. Wird der Geschlechtsverkehr „durchgezogen“ obwohl die Frau* schmerzen empfindet (oft mit dem Gedanken „na jetzt hat er es halt auch mal wieder verdient“), kann zu einem Teufelskreis führen. Der Körper lernt schnell, dass GV eine unangenehme Erfahrung war und der Beckenboden wird sich beim nächsten Versuch automatisch verkrampfen, Schmerzen werden häufiger und das führt natürlich zu einer Vermeidungstaktik. Auch hier ist es wieder wichtig, miteinander zu sprechen und sanfte Wege zu finden, die Lust zurückzuerobern. Wichtig ist auch, dem Thema Sexualität eine Wichtigkeit zu geben. Es nicht „schleifen“ lassen. Sexualität braucht Übung. Die Vulva und Klitoris werden durch regelmäßige Berührungen mehr durchblutet und angeregt. Eventuell vernarbte Areale werden wieder angeregt, Empfindungen intensiver wahrzunehmen. Frauen* sollen vor allem selbst immer wieder behutsam die Vulva und Vagina berühren, die Narben mit Ölen pflegen und die Durchblutung fördern.
Sich als Paar nicht zu verlieren, im stressigen Alltag die Nähe immer wieder zu suchen und zuzulassen, ist wichtig (auch „nur“ kuscheln, umarmen, küssen). Wird Nähe zu lange vermieden oder vergessen, ist es schwierig, sie wiederzufinden.
Was können Väter/ Partnerinnen* tun, damit sich Ihre Partnerinnen* wohlfühlen und Sexualität wieder mehr Leichtigkeit erfährt?
Auch hier spielt das Thema Zeit eine große Rolle. Väter/Partnerinnen* sind oft (da sie keine körperliche Geburt hinter sich haben) meist früher bereit für Sexualität. Wichtig wäre, den Frauen* Zeit zu geben, sie zu verwöhnen, sie an ihr „Frau*sein“ im Sinne von Komplimenten (nicht nur „du bist eine super Mama“, sondern auch „ich finde dich sexy“) zu erinnern und vor allem so viel wie möglich am Familienleben teilzuhaben und die Frau* zu entlasten.
Umso entspannter die Mutter ist, umso eher wird auch das Thema Sexualität zurückkehren.
Partner* müssen in diesen Momenten natürlich auch mit Abwehr und einem „Nein“ rechnen. Wichtig ist, sich das nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen und Gefühle immer offen zu besprechen.
Ebenso rate ich Paaren, die unter nicht vorhandener Sexualität leiden, ganz „unromantisch“, zu „Sex-Dates“, die im Kalender eingetragen sind. Dadurch bekommt Sex eine Wichtigkeit und einen Raum und es erspart im Alltag Stress- und Ablehnungssituationen. Was beim Sex-Date dann wirklich passiert, darf dann natürlich ganz spontan entschieden werden.
Inwiefern kann sich Mutterschaft positiv auf die weibliche Sexualität auswirken?
Ich spreche häufig mit Frauen*, die sich erst nach einer Geburt voll und ganz als FRAU* gefunden haben. Viele Frauen* sind mit ihrem Körper nach einer Schwangerschaft und Geburt viel versöhnter und können voll zurecht stolz auf ihren Körper sein. Sie bewerten sich nicht mehr so kritisch und streng und können dadurch auch lustvoller und freier Nacktheit und Sexualität leben.
Warum ist das Thema Sex nach der Geburt so ein großes Tabuthema?
Sexualität an sich ist in unserer Gesellschaft nach wie vor tabuisiert. Obwohl übersexualisiert in Medien und im Internet spricht selten jemand ehrlich und offen über das Thema. Dadurch entsteht eine paradoxe Wissenslücke und niemand traut sich ehrliche, intime Fragen zu stellen. Mutter zu werden ist mit so unfassbar viel (unnötigem) gesellschaftlichem Druck verbunden. Vorgaben, wie man als Mama zu sein hat, wie man das Kind zu pflegen hat, wie es essen soll, was es anhaben soll, was es für Spielzeug haben darf etc., erzeugen unglaublich viel Druck. Sexualität hat in dieser gesellschaftlichen Diskussion gar keinen Platz. Eine Mutter hat liebevoll, fürsorglich und aufopfernd zu sein, aber auf keinen Fall lustvoll, sinnlich und erotisch. Jedoch kann Frau* ganz sicher beides sein! Erotisch in der Paarbeziehung und liebevoll als Mutter. Wenn man es schafft, sich von diesem Druck zu lösen, wird beides ganz einfach gehen.
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