Warum mehr ADHS-Diagnosen bei Frauen* eine feministische Errungenschaft sind
- Sarah Tömböl
- 18. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
geschrieben von Sarah Tömböl
ADHS ist kein neues It-Piece von der Stange. Man kann es nicht nach Lust und Laune „an- und ausziehen“, je nach Saison. Was viele Frauen* derzeit erleben, ist keine Modediagnose, es ist der Moment, in dem eine lange übersehene Realität endlich Namen und Raum bekommt.
Durch die feministische Brille gesehen Frauen* mit ADHS ernst zu nehmen, ist ein politischer Akt. Jahrzehntelang wurden weibliche Verläufe in Forschung und Diagnostik kaum abgebildet: still, angepasst, leistungsstark… und innerlich erschöpft. Wenn heute mehr Diagnosen gestellt werden, dann nicht, weil Kriterien „weich“ geworden sind, sondern weil ein großer Gap in der Gendermedizin kleiner wird. Das ist also kein Modetrend, sondern Fortschritt. Wir sollten es feiern, wenn Frauen* für ihr Erleben endlich eine stimmige Erklärung bekommen – anstatt erneut abgewertet zu werden.
Warum „gerade jetzt“? (Spoiler: weil Kompensation Grenzen hat) Viele Frauen* haben über Jahre meisterhaft kompensiert: Sie kompensieren durch übermäßige Struktur, Perfektionismus, People-Pleasing, Masking. Das funktioniert!! ...bis es nicht mehr funktioniert. Lebensphasen mit hoher Reizdichte und Unterbrechungen lassen die besten Strategien bröckeln. Mutterschaft ist ein häufiges Beispiel dafür: Mental Load, Schlafmangel, null Puffer. Plötzlich wird (für andere) sichtbar, was immer da war. Nicht, weil Betroffene „schwächer“ werden, sondern weil die Anforderungen nicht mehr kompensierbar sind.
Die eigentliche Wunde: Viele Betroffene kommen nicht wegen „Unordnung“ oder „Vergesslichkeit“ zu mir in Behandlung, sondern wegen der Folgen jahrelanger Fehldeutungen: „zu chaotisch“, „zu emotional“, „nicht belastbar“ – Zuschreibungen, die sie sich mangels Diagnose zurechtlegen mussten. Oder die ihnen oft von außen eingeprägt wurden: „faul“, „inkonsequent“, „dumm“. Diese Worte sitzen tief. Sie prägen Identität, Beziehungen, Karriereentscheidungen. In so einem Fall ist eine Diagnose dann kein Etikett, sondern eine Art Gegengift, um neue eigene Narrative zu entwickeln.
Folgende Analogie hat eine meiner Patientinnen einmal in der Therapie für sich gefunden: „Ich bin nicht dumm. Ich bin neurodivergent. Mein Gehirn ist ein Ferrari, allerdings wurden mir beim Zusammenbauen nur Fahrradbremsen montiert. Manchmal benötige ich also ein bisschen Hilfe beim Bremsen oder aber eine geeignete Rennstrecke, wo ich manchmal einfach dahinsausen darf.“
Das klingt im ersten Moment witzig, ist aber eine ganz wichtige Umdeutung des inneren Erlebens. Denn wer sich lange als „Täuschung“ erlebt hat, trägt das Impostor-Gefühl weiter – manchmal sogar in die Diagnose hinein: „Bin ich neurodivergent genug? Oder einfach nur dumm?“ Hier liegt einer der Kernpunkte der therapeutischen Arbeit bei ADHS.
ADHS ist nicht heilbar. Was wird dann überhaupt therapiert? Therapie beginnt dort, wo das alte Selbstbild hinterfragt werden darf und Platz gemacht wird für etwas Neues, etwas Freundlicheres. Es geht nicht um noch mehr Disziplin und Gehorsam gegenüber neuen To-do-Listen, Erinnerungen, Apps … Es geht um ein Verständnis für sich selbst und darum, eine Passung der eigenen Besonderheiten mit der Umgebung zu entwickeln.
Wut hat Raum: Wut über verlorene Jahre, Wut über das ständige Zusammenreißen, Wut über die eigene Härte.Trauer hat Raum: Trauer um verpasste Chancen und die Frage, was vielleicht anders gewesen wäre, wenn man es nur schon früher gewusst hätte.
Und aus beidem wächst Selbstneuentdeckung: Wer bin ich eigentlich jenseits von Masking und Dauerkompensation? Wer bin ich, wenn ich mich nicht mehr ständig aus einer defizitären Sicht betrachte, sondern beginnen darf, meine Stärken zu sehen?
Praktisch heißt das: die alten Zuschreibungen entmachten; Scham durch Selbstmitgefühl ersetzen; Bedürfnisse erkennen lernen; Reize managen, ohne die eigenen Grenzen zu verleugnen; Stärken strategisch nutzen (Kreativität, Intuition, Hyperfokus).
Eine wichtige Ergänzung ist mir noch besonders wichtig: Medikation ist kein Gegenmodell zur Psychotherapie, sondern manchmal der Hebel, damit diese Prozesse überhaupt greifen.
Komorbiditäten: Das Problem muss bei der Wurzel gepackt werden Depressionen, Angst, Erschöpfung sowie Ess- oder Persönlichkeitsstörungen sind bei Frauen* mit (unerkanntem) ADHS selten Zufall. Sie entstehen häufig aus chronischer Überforderung, permanenter Selbstabwertung und dem jahrelangen Versuch, ein anders verdrahtetes Nervensystem zu zähmen. Wenn wir nur diese Folgen behandeln und die ADHS-Grundstruktur überhören, dämpfen wir vielleicht kurzzeitig bestimmte Symptome – die Quelle bleibt jedoch aktiv. Nachhaltig wird die Behandlung erst, wenn beides zusammengedacht wird: Komorbiditäten lindern und die neurodivergente Architektur anerkennen, benennen und passend versorgen. Sonst verschwinden Probleme an einer Stelle und tauchen an anderer wieder auf.
Vom „Funktionieren“ zum „Passend machen“ Das Ziel ist nicht, endlich „normal“ zu werden, sondern ein Leben zu gestalten, das mit einem neurodivergenten Nervensystem zusammenarbeitet. Das ist Selbstfürsorge – und ja, es ist feministisch: die eigene Wahrnehmung ernst nehmen, die eigenen Bedürfnisse politisch machen, die eigene Arbeits- und Care-Realität neu verhandeln.
Die Zunahme der Diagnosen ist kein Hype, sondern Heilungsgeschichte auf Bevölkerungsebene. Frauen* werden gesehen. Und wer sich hier wiedererkennt, darf zweifeln, wütend sein, trauern – und trotzdem feiern: Nicht, weil eine Schublade gefunden ist, sondern weil endlich eine Sprache da ist. Der Rest ist Arbeit. Wichtige Arbeit für und mit sich selbst. Gemeinsam machbar.



